Survival-Tagebuch 2004 - 15. Die Weisheit der Verbundenheit

Gedicht über Feuer

Du kannst entweder den Artikel lesen oder gleich raus gehen. Ich empfehle letzteres.

 

Der zwölfte Tag meiner Survivaltour. Ich beschreibe in meinem Tagebucheintrag meinen Alltag, was habe ich gemacht, was hat mich beschäftigt. Letztlich schreibe über die Kernthemen des Überlebens, bzw. über die Kernthemen des Lebens. Was ist wichtiger: Trockenes Feuerholz sammeln, oder ein Gedicht schreiben? Die wirkliche Antwort wirst du nur bei schlechtem Wetter, in einem rauchigen, selbstgebauten Shelter finden! Raus mit dir!

 

 

Hier findest du eine Einleitung zu der Artikelserie:

Survival-Tagebuch 2004 - Überblick zur Tour und Artikelserie

Die Weisheit der Verbundenheit

Der Tagebucheintrag des zwölften Tages ist für mich einer der kraftvollsten. Man erkennt, dass ich die Einträge über den Tag verteilt geschrieben habe. Ich habe die Dinge festgehalten, die mich am meisten beschäftigt und bewegt haben. Es ist sozusagen der Alltag meines Einsiedlerdaseins.

 

Achte beim Lesen des Tagebucheintrages auf die Themen über die ich geschrieben habe. Ich habe folgende Tätigkeiten und Ereignisse als "Kernthemen" empfunden:

 

Einsamkeit, Hunger, die Gedanken an Essen, Beeren sammeln und zählen, Feuerholz sammeln und das Feuer unterhalten, Körperpflege, Tee trinken, Wetter beobachten, auf den Wechsel der Jahreszeiten achten, Bäche und Seen, Veränderungen in meiner Umwelt / in der Natur, menschliche Stimmen, das Fell des Hasen, Tagebuch schreiben, Briefe schreiben, dichten, meine tierischen Mitbewohner und die Tiere in meiner Umwelt.


Aus meinem Tagebuch:

Montag: 23.8.2004

So langsam wird es Zeit sich vom Eremitendasein zu verabschieden. Es war heute der letzte Tag, den ich hier ganz alleine verbracht habe. Morgen gegen Mittag wird Sebastian hier ankommen, mit Essen! Ich bereite gerade meine letzte Fleischration zu. Außerdem kocht noch ein Weidenröschen-Wurzelgemüse über dem Feuer. Heute hat es kaum geregnet, dafür war es aber kalt.

Bei den Moltebeeren bin ich heute nur auf 846 gekommen. Ansonsten habe ich noch Feuerholz geholt und meine Hände in warmem Wasser eingeweicht. 

 

Ich bin etwas traurig darüber, dass die Zeit hier schon um ist. Rückblickend ist sie doch sehr schnell vergangen. Und es war eine sehr gute Zeit. Noch ein paar sonnige, warme Tage wären wirklich nicht schlecht. Aber ich glaube kaum, dass es von denen noch sehr viele geben wird. Denn es wird Herbst in der Kabla. Die Birkenblätter fangen an sich zu verfärben und die Nächte werden immer kälter. Zwar blühen noch viele Weidenröschen an den steinigen Hängen und es werden auch noch einige blühen. Und doch spüren auch sie schon den Herbst in ihren Blättern.

 

Jetzt, wo es so viel geregnet hat, gibt es überall neue Bäche und kleine Seen im Wald. Die vielen trockenen Bachbetten, welche ich noch vor ein paar Tagen überall angetroffen habe, sind nun mit Wasser gefüllt. Von überall her hört man es plätschern, gurgeln, rauschen und brausen. Manchmal ist es als wären es Stimmen die ich in einiger Entfernung höre. Zuerst habe ich mir immer noch die Mütze vom Kopf gerissen, mich gesorgt, dass ich unter Halluzinationen leide, vielleicht vor Hunger. Aber inzwischen habe ich gemerkt, dass ich diese Stimmen nur höre, wenn auch ein Bach in der Nähe ist. Trotzdem ein seltsames Gefühl, mitten in der Wildnis ein Kind weinen, einen Hund bellen oder eine Glocke läuten zu hören. 

 

Ich merke schon, dass es heute Nacht sehr kalt werden wird. Das Hasenfell, welches ich auf den Rahmen gespannt hatte, habe ich inzwischen heruntergenommen. Dabei ist ein relativ großer Riss im Fell entstanden. Ich denke, ich werde ohnehin nur das schönste Stück mitnehmen.

 

Heute Morgen konnte ich überall Mäuse hören. Ein paar hab’ ich auch gesehen. Eine von ihnen ist auf einem Balken entlanggelaufen und hat dann von meinem Weidenröschenteekraut gefuttert. Unverschämtheit! :-)


Ich frage mich: Warum empfinde ich diese entbehrliche Zeit im Nachhinein als so bereichernd und stärkend? Warum habe ich aus ihr mehr gelernt, als in einem ganzen Schuljahr? Warum ziehen mich noch heute Unternehmungen an, bei denen ich mir immer wieder sage: "Aaron, was machst du hier eigentlich... geh nach Hause ins warme und ess was ordentliches!" :-)

 

Die Antwort zu der ich bisher gekommen bin: Ich lerne, was es bedeutet lebendig zu sein. Ich lerne lebendig zu sein.

 

Und wenn mich jemand fragt, was es bedeutet lebendig zu sein, so ist meine Antwort: "Auf die Einsamkeit achten, den Hunger spüren, mit den Gedanken an Essen jonglieren, Beeren sammeln und zählen, Feuerholz sammeln und das Feuer unterhalten, den Körper pflegen, Tee trinken, das Wetter beobachten, auf den Wechsel der Jahreszeiten achten, Bäche und Seen wahrnehmen, Veränderungen in meiner Umwelt / in der Natur kennen, menschliche Stimmen lieben, das Fell des Hasen, Tagebuch schreiben, Briefe schreiben, dichten, auf meine tierischen Mitbewohner und die Tiere in meiner Umwelt achten."

 

Das sind alles Dinge, die mich in Kontakt mit meiner Umwelt bringen, die mich mit ihr Verbinden. Es ist Verbundenheit mit dem Lebendigen. Es ist "eins werden mit der Natur", "eins werden mit meiner Natur", sie kennen, sie fühlen, sie leben. Je mehr ich meine Umwelt kenne und mich in sie einglieder, je verbundener ich bin, desto leichter ist das Überleben. Desto lebendiger ist das Leben.

 

Die Fortsetzung der Artikelserie findest du hier:

 

 

Survival-Tagebuch 2004 - 16. Oxytocinausschüttung

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